Nobody (2021) | Film, Trailer, Kritik (2024)

Mit „Ein Mann sieht rot“ schuf Michael Winner Mitte der 1970er Jahre wohl den Prototypen des Selbstjustizfilms. Darin macht ein unbescholtener, von Knautschgesicht Charles Bronson gespielter Architekt nach der brutalen Vergewaltigung seiner ihren Verletzungen erliegenden Frau und seiner Tochter wahllos Jagd auf Kriminelle in den Straßen New Yorks und kommt am Ende ungeschoren davon. Die platte, fragwürdige Ideologie des Großstadtreißers wurde nach seinem Erscheinen wiederholt kontrovers diskutiert, diente vielen Autoren und Regisseuren aber auch als Vorbild für ähnliche filmische Rundumschläge.

Eine neue Variante des zweifelhaften Winner-Klassikers scheint Ilya Naishuller mit seiner zweiten Leinwandarbeit Nobody auf das Publikum loszulassen. Bereits im ersten Drittel deuten sich allerdings Abweichungen und ironische Brechungen von der meistbierernsten Racheformel an. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht der unscheinbare, in einer Vorstadtsiedlung wohnende Familienvater Hutch Mansell (Bob Odenkirk), dessen Alltag nicht gerade von großer Abwechslung oder spannenden Ereignissen geprägt ist. Die Monotonie seines Daseins kondensiert der Film in einer pointierten Montage, die im Zeitraffer den stets gleichen Ablauf bestimmter Wochentage illustriert. Zum Schmunzeln ist vor allem die Erkenntnis, dass Hutch die Mülltonne jedes Mal zu spät nach draußen stellt und sich dafür von seiner Gattin Becca (Connie Nielsen) stets eine kritische Bemerkung abholt.

Als eines Nachts Unbekannte in das Haus der Mansells einbrechen und vom Protagonisten überrascht werden, überlegt er einen Moment, ob er seine Familie mit allen Mitteln verteidigen soll, hält sich dann aber doch lieber zurück. Sehr zum Ärger seines Teenager-Sohnes Blake (Gage Munroe), der sich zuvor furchtlos auf einen der Eindringlinge gestürzt hat. Stichelnde Kommentare über seinen fehlenden Beschützerinstinkt und seine Weichlichkeit schleudern Hutch nur wenig später einer der herbeigerufenen Polizisten (Adam Hurtig), der großmäulige Nachbar (Paul Essiembre), sein Schwager Charlie (Billy MacLellan) und sein Schwiegervater Eddie (Michael Ironside) entgegen, in dessen Firma er einem langweiligen Bürojob nachgeht.

Nobody erweckt für kurze Zeit den Eindruck, als ginge es fortan darum, dass ein farbloser, andauernd belächelter Durchschnittstyp langsam den Aufstand probt. Ein Mann, der sich nicht länger herumschubsen lassen und endlich aus seiner zermürbenden Existenz ausbrechen will. Das Drehbuch von John Wick-Autor Derek Kolstad könnte eine Richtung einschlagen, wie sie Todd Phillips mit seiner eigenwilligen Comicadaption Joker beschreitet, in der ein Niemand nach ständigen Demütigungen jegliche Kontrolle verliert. Auch Hutch schreitet irgendwann zur Tat, ist entschlossen, die Räuber ausfindig zu machen und das Lieblingsarmband seiner Tochter Abby (Paisley Cadorath) wiederzubeschaffen. Anders als im Fall des Batman-Antagonisten blitzen aber zunehmend geheimnisvolle Hinweise auf Mansells ominöse Vergangenheit auf. Offenbar war er nicht immer der Pantoffelheld, als den wir ihn zu Beginn kennenlernen.

Eine zufällige Begegnung mit einer übergriffigen Schlägertruppe in einem Linienbus markiert schließlich den Kipppunkt des Films, der ein wenig an David Cronenbergs deutlich raffinierteres Thrillerdrama A History of Violence erinnert. Durch seine Handlungen gerät Hutch auf einmal ins Visier der russischen Gangstergröße Yulian Kuznetsov (Aleksey Serebryakov) und tritt einen regelrechten Gewaltrausch los. Der wohl größte Coup von Nobody besteht darin, den aus den Fernsehserien Breaking Bad und Better Call Saul bekannten Endfünfziger Odenkirk in der für ihn ungewohnten Rolle eines wenig zimperlichen Actionhelden zu besetzen. Der US-Schauspieler, der auch als Produzent beteiligt war, genießt es merklich, sich auf neuem Terrain auszuprobieren, und kann sich durchaus mit einem Genrerecken wie Liam Neeson messen, obgleich ihm die imposante Statur des gebürtigen Nordiren fehlt.

Die Kampfszenen versieht Naishuller, dessen Debütwerk Hardcore ein irrwitzig-aufgekratzter, aus der Ego-Perspektive gefilmter Schieß- und Fluchtparcours ist, mit ausreichend Zug, ohne allerdings vollkommen außergewöhnliche Stunts aus dem Hut zu zaubern. Odenkirks trockene, zugleich energiegeladene Performance und die handwerklich überzeugende Actionchoreografie kaschieren leider nur notdürftig, dass Nobody den Autopiloten einschaltet, sobald sich Hutchs verdrängte Vergangenheit abzuzeichnen beginnt. Was genau er früher getan hat, lässt der Film zwar noch eine Weile offen. Sind seine Fertigkeiten und sein eiserner Wille aber einmal etabliert, nimmt die Eskalationsspirale einen recht vorhersehbaren Verlauf. Auch, weil sich der Gegenspieler bis auf ein paar skurrile Gesangseinlagen im Klischee des Brutalo-Mafioso erschöpft. Die plötzlichen Gewaltausbrüche Yulians sollen der Figur eine unberechenbare Aura verleihen. Auf Dauer nutzen sich die Exzesse jedoch ab. Der augenzwinkernde Einsatz musikalischer Klassiker – etwa der Fußballkulthymne You’ll Never Walk Alone – und die im Skript angelegte Situationskomik wirken häufig zu bemüht, um großen Unterhaltungswert zu entfalten. Der Spaß, den Odenkirk und der von Christopher Lloyd verkörperte Vater des Protagonisten im bleihaltigen, Tarantino-esken Finale an den Tag legen, ist unübersehbar. Vollends übertragen will sich ihr Eifer aber nicht.

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